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20.9.2024
Ist die Ableistung einer Befreiungsgebühr vom Wehrdienst dem Grunde nach ein Mittel zur Abwendung von drohenden Verfolgungshandlungen wegen Militärdienstverweigerung oder unverhältnismäßiger Bestrafung und widerspricht eine Bezahlung der Sanktionen-Verordnung (EU) Nr. 36/2012 des Rates vom 18.01.2012?
W261 2289490-1/11Z vom 12. September 2024, C-596/24
Im Ausgangsfall des vorliegenden Vorabentscheidungsverfahrens stellte ein syrischer Staatsbürger einen Antrag auf internationalen Schutz wegen Wehrdienstverweigerung, welcher vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl unter anderem mit der Begründung abgewiesen wurde, dass es ihm möglich sei als im Ausland lebender Syrer eine Befreiungsgebühr vom Wehrdienst zu bezahlen.
Der Beschwerdeführer führte in seiner Beschwerde und im Rahmen seiner Einvernahme vor dem Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, dass er die Bezahlung einer Befreiungsgebühr vom Wehrdienst mit der Begründung verweigern würde, weil er die Praktiken der syrischen Armee bzw. eine Teilnahme am Krieg strikt ablehne. Zudem wolle er das syrische Regime nicht finanziell unterstützen, zumal er damit auch der Sanktionen-Verordnung (EU) Nr. 36/2012 des Rates vom 18.01.2012 zuwiderhandeln würde.
Für das Bundesverwaltungsgericht stellt sich im Beschwerdeverfahren die grundsätzliche Frage, ob die Zahlung einer Befreiungsgebühr, die dem zur Militärdienstleistung verpflichtenden Staat zufließt, im Sinne der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union ein Mittel sein kann, dass es dem Betroffenen erlaubt, der unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung oder der Beteiligung an Kriegsverbrechen im Sinne von Art. 12 Abs. 2 lit. a der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (Status-RL) zu entgehen, und damit die Annahme von Verfolgungshandlungen gemäß Art. 9 Abs. 2 lit. c und e der Status-RL ausschließt.
In der österreichischen Literatur und Judikatur der beiden Höchstgerichte wird ein solches Mittel der Möglichkeit zur Befreiungsgebühr dem Grunde nach durchaus bejaht. Auch UNHCR erblickt keine Überschreitung der Verfolgungsschwelle, wenn die Wehrpflicht durch Zahlung einer Verwaltungsgebühr vermieden werden kann.
Es ließe sich in diesem Zusammenhang auch argumentieren, dass dies deshalb nicht anzunehmen sein könnte, weil die Zahlung einer Geldleistung an einen Staat, dessen Militär, in dessen Rahmen der verpflichtende Dienst vorgesehen ist, in einem Konflikt steht, in dem der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter den Anwendungsbereich der Ausschlussklauseln des Art. 12 Abs. 2 lit. a der Richtlinie 2011/95 fallen, eine indirekte Beteiligung an solchen Verbrechen oder Handlungen – durch eine finanzielle Unterstützung des konfliktverfangenen Staats bzw. Militärs – bedeuten würde. In der bisherigen Judikatur des Gerichtshofes der Europäischen Union (insbesondere dem Urteil vom 26.02.2015, Shepherd, C‑472/13, EU:C:2015:117) waren bisher jedoch keine Anhaltspunkte für ein solch weites Verständnis der „Beteiligung an den behaupteten Kriegsverbrechen“ zu finden.
Sollte die Möglichkeit der Leistung einer Befreiungsgebühr vom Gerichtshof der Europäischen Union bejaht werden, stellt sich die weitere Frage, ob der Verweis auf die Zahlung einer Befreiungsgebühr zumutbar ist, wenn ein Asylwerber es aus einer religiösen Grundhaltung oder politischen Meinung ablehnt, diese Gebühr zu leisten.
In der österreichischen Literatur werden dazu unterschiedliche Ansichten vertreten. In Binder/Haller/Nedwed, Wehrdienstverweigerung als Asylgrund, in: Filzwieser/Kasper [Hrsg.], Asyl- und Fremdenrecht – Jahrbuch 2023, 221 [245 f.], wird festgehalten, dass die Tatsache, dass die Befreiungsgebühr unter anderem dem Militärbudget des Herkunftsstaates zufließen kann, es noch nicht rechtfertigt, sie als ungeeignete Alternative zum Wehrdienst für Verweigernde aus Gewissensgründen anzusehen. Demgegenüber vertritt Frühwirth, „Freikaufen“ vom Militärdienst? – Überlegungen zur (Un)zumutbarkeit dieser Befreiungsmöglichkeit im asylrechtlichen Kontext [Teil I und II], Blog Asyl, 22.12.2023, die Auffassung, dass es für einen Antragsteller nicht zumutbar sein könne, durch die Zahlung eines (hohen) Geldbetrags an einen Herkunftsstaat bzw. dessen Militärapparat eine Befreiung von der Militärdienstverweigerung zu erreichen, wenn er eine ablehnende Haltung gegenüber einem bewaffneten Konflikt und dem ihn am Leben erhaltenden (militärischen) Apparat habe bzw. die dadurch zum Ausdruck gebrachte oppositionelle politische Überzeugung Grund für die Militärdienstverweigerung sei.
Die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union zur Bestimmung des Art. 9 Abs. 2 lit. e der Status-RL gibt weiters zu Zweifeln Anlass, auf welchen Zeitpunkt bei der Prüfung, ob die Ableistung einer Befreiungsgebühr im Einzelfall möglich ist, abzustellen ist.
Dem Bundesverwaltungsgericht scheint es naheliegend, dass die Prüfung der Frage, ob die Ableistung einer Befreiungsgebühr tatsächlich vom vorgesehenen Militärdienst entbindet und diese Gebühr vom Betroffenen auch tatsächlich geleistet werden kann, im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz bzw. im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung über den Rechtsbehelf gegen die behördliche Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz zu erfolgen hat.
Gleichwohl hegt das Bundesverwaltungsgericht an dieser Auffassung insoweit Zweifel, als der Gerichtshof der Europäischen Union – in Bezug auf die Verfolgungshandlung nach Art. 9 Abs. 2 lit. e der Richtlinie 2011/95 – aussprach, dass die Verweigerung des Militärdienstes das einzige Mittel darstellen muss, das es dem die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begehrenden Antragsteller erlaubt, der Beteiligung an Kriegsverbrechen zu entgehen, wobei es darauf ankommt, dass dem Antragsteller in seiner konkreten Situation kein Verfahren zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer „zur Verfügung stand“ (EuGH 26.02.2015, Shepherd, C‑472/13, EU:C:2015:117, Rn. 45, und EuGH 19.11.2020, EZ, C‑238/19, EU:C:2020:945, Rn. 28).
Schließlich stellt sich in Bezug auf Syrien die Frage, ob der Verweis auf die Möglichkeit der Zahlung einer Befreiungsgebühr aufgrund der Bestimmungen der Sanktionen-Verordnung Nr. 36/2012 des Rates vom 18.01.2012 (in der geltenden Fassung) unzulässig ist.
Das Bundesverwaltungsgericht hegt Zweifel, ob und – bejahendenfalls – inwieweit eine Zahlung der in Syrien gesetzlich vorgesehenen Befreiungsgebühr von in Europa aufhältigen syrischen Staatsangehörigen durch die Bestimmungen dieser Verordnung erfasst und dementsprechend verboten ist.
W261 2289490-1/11Z vom 12.09.2024
Die Vorlagefragen im Wortlaut:
1) Ist Art. 9 Abs. 2 lit. e der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes dahin auszulegen, dass die Möglichkeit der Zahlung einer in einem Herkunftsstaat gesetzlich vorgesehenen Gebühr, die von der Verpflichtung zur Ableistung eines Militärdienstes im Sinne dieser Bestimmung tatsächlich befreien würde, das Vorliegen einer Verfolgungshandlung ausschließt, wenn die Zahlung einer solchen Gebühr das einzige Mittel darstellt, um einer Einziehung zu diesem Militärdienst zu entgehen?
1.a.) Wenn Frage 1 zu bejahen ist: Ist Art. 9 Abs. 2 lit. e der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass die Möglichkeit der Zahlung einer in einem Herkunftsstaat gesetzlich vorgesehenen Gebühr, die für im Ausland lebende Staatsangehörige eine Befreiung von der Verpflichtung zur Ableistung des Militärdienstes für den Herkunftsstaat bedeuten würde, das Vorliegen einer Verfolgungshandlung ausschließt, wenn die Zahlung einer solchen Gebühr das einzige Mittel darstellt, um bei Rückkehr in den Herkunftsstaat einer Einziehung zu diesem Militärdienst zu entgehen, und diese Gebühr nach der Anzahl der Jahre des Auslandsaufenthalts bemessen ist, wobei 10.000,– US-Dollar bei einem Jahr, 9.000,– US-Dollar bei zwei Jahren, 8.000,– US-Dollar bei drei Jahren und 7.000,– US-Dollar bei vier Jahren Auslandsaufenthalt zu entrichten sind und für jedes weitere Jahr jeweils eine Gebühr von 200,– US-Dollar anfällt?
1.b.) Wenn Frage 1 zu bejahen ist: Ist auch Art. 9 Abs. 2 lit. c der Richtlinie 2011/95/EU dahin auszulegen, dass die Möglichkeit der Zahlung einer in einem Herkunftsstaat gesetzlich vorgesehenen Gebühr, die von der Verpflichtung zur Ableistung eines Militärdienstes tatsächlich befreien würde, das Vorliegen einer Verfolgungshandlung ausschließt, wenn die Zahlung einer solchen Gebühr das einzige Mittel darstellt, um einer Einziehung zu diesem Militärdienst zu entgehen?
2.) Wenn zumindest Frage 1 zu bejahen ist: Sind Art. 9 Abs. 2 lit. e und – soweit Frage 1.b. zu bejahen ist – c in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 lit. b und c der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass die Möglichkeit der Zahlung einer in einem Herkunftsstaat gesetzlich vorgesehenen Gebühr, die von der Verpflichtung zur Ableistung eines Militärdienstes tatsächlich befreien würde, das Vorliegen einer Verfolgungshandlung dann nicht ausschließt, wenn ein Antragsteller im Sinne des Art. 2 lit. i dieser Richtlinie eine religiöse beziehungsweise moralische Grundhaltung oder eine politische Meinung, Anschauung beziehungsweise Überzeugung hat, aufgrund derer er die Zahlung dieser Gebühr nicht leisten möchte?
3.) Wenn zumindest Frage 1 zu bejahen ist: Sind Art. 9 Abs. 2 lit. e und – soweit Frage 1.b. zu bejahen ist – c in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 lit. a und Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 sowie Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes dahin auszulegen, dass es für die Frage, ob die Möglichkeit der Zahlung einer in einem Herkunftsstaat gesetzlich vorgesehenen Gebühr, die von der Verpflichtung zur Ableistung eines Militärdienstes tatsächlich befreien würde, das Vorliegen einer Verfolgungshandlung ausschließt, auf den Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz beziehungsweise den Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts über einen Rechtsbehelf gegen die behördliche Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ankommt?
4.) Stehen die unionsrechtlichen Bestimmungen der Verordnung Nr. 36/2012 des Rates vom 18. Januar 2012 über restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in Syrien und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 442/2011 in der geltenden Fassung der Annahme entgegen, dass die Möglichkeit der Zahlung einer in Syrien gesetzlich vorgesehenen Gebühr, die für im Ausland lebende syrische Staatsangehörige eine Befreiung von der Verpflichtung zur Ableistung des Militärdienstes für den Herkunftsstaat bedeuten würde, das Vorliegen einer Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Abs. 2 lit. e oder c der Richtlinie 2011/95 ausschließt, wenn die Zahlung einer solchen Gebühr das einzige Mittel darstellt, um bei Rückkehr nach Syrien einer Einziehung zu diesem Militärdienst zu entgehen, und diese Gebühr nach der Anzahl der Jahre des Auslandsaufenthalts bemessen ist, wobei 10.000,– US-Dollar bei einem Jahr, 9.000,– US-Dollar bei zwei Jahren, 8.000,– US-Dollar bei drei Jahren und 7.000,– US-Dollar bei vier Jahren Auslandsaufenthalt zu entrichten sind und für jedes weitere Jahr jeweils eine Gebühr von 200,– US-Dollar anfällt?